
Es ist Nacht. Mir geht so vieles durch den Kopf. Ich kann nicht schlafen. Es poltert im Treppenhaus. Mein Körper ist so müde, aber mein Kopf ist so wach. Etwas fällt die Treppe herunter. Ich stehe auf. Draußen ist es Dunkel. Aber der Schein trügt. Ich öffne die Wohnungstür. Draußen stehen unsere Nachbarn. Einer ihrer schweren Reisekoffer ist die Treppe herunter gestürzt. Der Inhalt verteilt sich auf dem Boden. Wir schweigen. Es ist Nachts um drei. Ich helfe ihnen alles wieder einzupacken.
„Ihr solltet auch gehen,“ sagt einer. Wir nehmen uns in den Arm. Sie lassen alles zurück.
Paul und ich reden viel darüber zu gehen oder zu bleiben. Die Kinder nörgeln. Emil geht seit Wochen nicht mehr in den Kindergarten. Ida geht manchmal noch zu ihrer Tagesmutter nach Hause. Wir machen es eigentlich nur, weil wir wissen, dass sie das Geld brauchen. Im Radio nur Nachrichten über verstopfte Autobahnen. Paul sagt, wir bleiben noch.
Manchmal gehe ich mit Emil und Ida zum Spielplatz. Wir sind allein. Ich höre keine Kinder mehr lachen. Alles zerfällt ein bisschen.
Dann stehen sie auf einmal auch in unserer Straße. Vor unserer Tür. Alles geht wahnsinnig schnell. Ich weiß nicht, was wir mitnehmen sollen. Aus dieser Wohnung, groß und geräumig. Altbau, hohe weiße Decken und Stuck. Designermöbel, Erbstücke, überall Fotografien. Unsere Katze. Emil packt alles in den kleinen Trolley. Den hatten wir schon als wir nach Rom und Venedig gereist sind. Damals, als alles anders war. Ida schreit. Ich versuche die Katze raus zu lassen, aber sie war noch nie draussen. Hier drinnen wird sie verhungern. Emil schreit die Katze soll mit. Unser ganzes Leben steckt in diesen Wänden. Überall Kinderzeichnungen. Die warmen Bettdecken riechen noch nach den Körpern meiner Kinder. Paul schleppt Sachen ins Auto. Ein Glück, wir haben ein Auto. Wir packen und packen. Emil schreit. Ständig schubsen Leute ihn vom Gehweg.
Ich nehme die Katze und werfe sie etwas unliebsam in den Garten. Sie hat Angst. Aber ich kann sie nicht in der Wohnung lassen. Und ich kann doch die Tür nicht auflassen. Von unserem Zuhause. Jeder könnte rein kommen.
Aus den anderen Hamburger Vierteln weiß ich längst, dass die Wohnungen so oder so aufgebrochen werden. Das geplündert und zerstört wird. Ich habe keine Ahnung ob unser Besitz jemals wieder als unseres anerkannt wird, sollten wir zurück kehren.
Ida schreit. Sie lässt sich nicht anschnallen. Ich laufe zurück um Emil an die Hand zu nehmen. Jemand schiebt seinen Koffer gegen die kleinen Kinderfüße. Auf der Straße steht Jan. Unser Nachbar. Sechzehn ist er. Geht aufs Gymnasium am Ende der Straße. Er schreit „Ihr zerstört unsere Leben nicht!“ Im selben Moment schießt jemand eine Kugel in seinen Kopf. Er kippt um. Niemand schreit. Auch seine Mutter nicht. Emils Augen sind so geweitet, dass ich glaube, er wird sie nie wieder schließen können. Ich klemme ihn unter meinen Arm und renne zum Auto. Es ist mir scheiß egal ob Ida angeschnallt ist.
Wir kommen nicht weit. Nach vier Stunden haben wir Hamburg immer noch nicht verlassen. Es geht nicht vorwärts. Die Menschen, die zu Fuß sind hämmern gegen die Autoscheiben. Sie kommen aus dem Süden. Sie haben kaum noch etwas zu essen. Ihre Kleidung ist dreckig. Sie betteln und strecken ihre Hände aus. „Wir müssen ihnen was geben,“ weint Emil. Aber wir haben selbst nur das eingepackt was noch im Haus war. Angebrochene Pakete Käse, Zwieback, harte Nudeln. Wir müssen doch auch überleben?
Als es dunkel wird erreichen wir die überfüllte Autobahn. Ida hat sich in den Schlaf geschrien. Emil ist lethargisch. Es geht nicht weiter. Noch fahren Schiffe nach England. Heißt es.
Nach einem weiteren Tag Stillstand geben wir auf. Wir lassen alles im Auto zurück was nicht überlebenswichtig ist. Ida schreit dem Puppen Buggy hinterher. Emil redet nicht mehr. Nur manchmal fragt er, ob Jan noch nach kommt. Am Rande der Autobahn prügeln sich erwachsene Männer um Essen. Ich ziehe Emil weg.
Ich habe mich manchmal aufgeregt, wenn Emil es aus Bequemlichkeit nicht schafft zu Fuß die letzten 500 Meter zum Kindergarten zu laufen. „Du bist zu schwer,“ habe ich gemurrt. Jetzt trage ich ihn oder Ida seit Stunden. Eine schwere Tasche über dem Arm. Die Windeln sind jetzt schon aus. Manchmal läuft es mir warm am Arm herunter. Ich würde sie bis ans Ende der Welt tragen. Ich frage mich jede Minute, wie konnte das passieren. In unserem Land? Wieso hat niemand eingegriffen, als alle schon gesehen haben, dass die Sache aus dem Ruder gerät. Warum sind wir allen auf einmal so egal? Ein blühendes Land. Eine Nation die etwas aufgebaut hat.
Ich laufe barfuss, die Blasen an meinen Füßen gehen bis aufs Fleisch. Paul versucht mir so viel wie möglich abzunehmen. Die Kinder haben Hunger. Und Durst. Ich kann doch nicht aus einem Bach trinken. Ich bin doch mitten in Deutschland!
Nachts hört man überall Menschen schreien. Wir bleiben immer ganz dicht beieinander. Es gibt kaum noch Elektrizität. Wir dürfen uns niemals verlieren. Niemals. Längst ist das Gerücht auch zu uns durchgedrungen, das schon lange keine Schiffe mehr nach England gehen. Idas Sachen sind alle nass. Ich weiß nicht, was ich ihr noch anziehen soll. Wir haben nichts mehr. ich sehe wie Emil einen toten Hund streichelt. Ich zerre ihn weg. Ich würde so gerne wissen, wo meine Eltern sind. Und meine Brüder. Aber der Handy Akku ist längst leer. Ich weiß nicht, ob sie noch leben. Wo mein Vater doch nie gezögert hat vehement seine Meinung zu vertreten.
Wir laufen seit Tagen am Wasser entlang. Manchmal werden tote Körper angespült. Ich ziehe Emil weg. Seine Augen werden sich nicht mehr schließen, denke ich. Seine Augen werden immer, immer das sehen, was hier gerade passiert. Er wird das Glück niemals mehr greifen können. Er hält noch immer seinen Eisbären. Er ist nicht mehr weiß. Aber er ist noch da. Emil trägt ihn so hartnäckig wie ich Ida trage. Alles an meinem Körper schmerzt. Einmal breche ich zusammen, als ich ein angespültes Baby sehe. Paul zieht mich mit. Wir dürfen nicht stehen bleiben.
An der Grenze zu den Niederlanden stehen Tausende. Sie versuchen durchs Wasser zu kommen. Schwimmend. So weit draussen wie möglich. Aber überall sind Boote. Sie treiben die Menschen zurück. Ich verliere eine Sekunde Emil aus den Augen und er ist weg. Zwischen Tausenden schreiender, verzweifelter Menschen. Ich will ihn suchen, aber nicht auch noch Paul und Ida verlieren. Wir versuchen gegen den Lärm anzuschreien. Ich bin hysterisch. Ich schreie und weine und gerate in Panik. Irgendwann reicht ein großer Mann Emil über die Köpfe der anderen hinweg. Es geht ihm gut. Ich bin am Ende.
Es dauert zwei Tage bis wir nach vorne durchkommen. Jemand schlägt Paul mit einem Stock ins Gesicht. Er blutet stark. Wir versuchen es mit einem von Idas T-Shirts zu stillen. Emil schreit. Niemals sollte ein Kind sehen, wie der Vater geschlagen wird. Sie treiben uns mit Stöcken immer wieder zurück. Von hinten drückt die nachschiebende Masse. Manchmal habe ich Angst, dass Ida verhungert. Sie ist so dünn geworden. Sie isst so gut wie gar nichts mehr. Wir haben auch nichts mehr.
Nach vier Tagen werden wir reingelassen. Wir sind in den Niederlanden. Weil wir das Glück haben kleine Kinder zu haben. In großen LKWs ohne Fenster werden wir tranpsortiert. Die Kinder bekommen frisches Wasser. Von außen werfen Menschen Steine gegen den LKW. Jetzt weiß ich, warum er keine Scheiben hat.
Wir werden in eine leerstehende Fabrik geführt. Ida hat Fieber bekommen. Sie zittert am ganzen Leib. Ich habe Angst dass sie stirbt. Niemand kann uns weiter helfen. Vor der Farbrik skandieren Menschen. Sie schreien uns an, dass wir zurück sollen. Das man uns und unsere Kinder erschießen soll. Emil redet seit Tagen nicht mehr. Er benimmt sich manchmal wie ein Baby. Er liegt viel zusammengekauert auf der Pritsche.
Manchmal fragt er, wann wir denn erschossen werden.