Marta übertrifft die Anforderungen. Juchuh!

Nehmen wir mal an, ganz hypothetisch, es gebe ein kleines Mädchen in dieser Stadt, nennen wir sie Marta. Marta spielt Geige, hat wunderschöne Haare, malt sehr viel und gerne und ist ganz außerordentlich empathisch. Als Marta zum Viereinhalbjährigen Gespräch in ihre zukünftige Grundschule eingeladen wird, kitzelt es ganz aufgeregt in ihrem Bauch – Marta möchte sehr gerne ein Schulkind sein.

In ihrem Kindergartenbogen stehen nur tolle Dinge über Marta – und da geht es schon los. In Martas Kindergarten hat Spielen die höchste Priorität – nicht Zahlen lernen oder Buchstaben mit Buntstiften malen. In Martas Kindergarten wird auf Grashalmen gekaut, Barfuß durch kleine Bäche gelaufen, viel auf Bäume geklettert, gesungen, gelacht, gemalt und mit Holz geschnitzt. Martas Kindergarten hat völlig verpasst sich den Hamburger Gepflogenheiten anzupassen, ihre Kinder auf die Schule vorzubereiten, weil sie so naiv waren zu glauben, lesen und schreiben würde man ja noch früh genug lernen. „Natürlich kann man schon Zahlen und Buchstaben lernen, wenn man das will“, sagen die Erzieher in Martas Kindergarten. „Aber es gibt eintausend Dinge die noch viel mehr Spaß machen wenn man vier ist! Warum sollten wir die nicht machen?“

Marta ist ein offenes Kind, sie redet gerne mit allen, ist aber nie aufdringlich. Im Viereinhalbjährigen Gespräch erzählt sie von ihrer Liebe zu Pferden, von ihrem Talent zu klettern und zu zeichnen. Sie weiß aber leider nicht welche Zahl höher ist, die fünf oder die sieben. Oha, sagt die Schule. Dabei vermerkt sie, Marta sei ein Kann-Kind. Da sie die Zahlen nicht zuordnen kann, wird von einer Einschulung mit sechs Jahren abgeraten. Leider vergisst die Schule, das auch Martas Eltern zu sagen.

Unglaublich stolz wird Marta eingeschult, an einem Spätsommertag unter einem Apfelbaum in einem historischen Schulgebäude mit wildem Wein, der sich bereits rot färbt und blauem Himmel und 23 neuen potentiellen Freunden. Marta kennt niemanden und freut sich auf so viele neue Menschen. Zuhause malt sie Buchstaben in ihr Heft, malt Bilder dazu und liebt ihre neuen Freundinnen. Nach der ersten Klasse heißt es, Marta kommt nicht im Tempo der restlichen Klasse mit. Es wäre gut, Ende der ersten Klasse lesen zu können und rechnen im Plus und Minus Bereich bis 20. Da würde sie doch noch sehr viel überlegen müssen. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass Martas erstes Schuljahr bereits vom Lockdown unterbrochen wurde. Martas Eltern wurde gesagt, man soll die Kinder in ihrem eigenen Tempo arbeiten lassen. Erst mal ankommen. Sich zurecht finden. Seine Stärken entdecken. Zu spät haben Martas Eltern gemerkt, dass sie mit der Umsetzung des guten Ratschlages allein stehen. Alle anderen üben und lernen zu Hause, das vorgegebene Tempo ist nicht das der Kinder, sondern das der Eltern.

Das vorgegeben Tempo ist nicht das der Kinder, sondern das der Eltern.

In ihrem ersten Zeugnis steht dennoch, wie überdurchschnittlich gut sie ist: in Sozialkompetenz, Fairness und Kreativität. In Hamburg wird für jede Kompetenz ein Kreuz gesetzt, alle Kreuze im mittleren Bereich – so wird es einem gesagt – bedeuten, dass man gut durch die erste Klasse gekommen ist. Die Eltern reißen noch vor dem Schulgebäude die Zeugnisse ihrer Kinder auf und vergleichen die Kreuze. Je mehr Kreuze im oberen Bereich, desto glücklicher die Eltern. Martas Eltern dachten, gut durchgekommen würde reichen. Kreuze vergleichen ist das Letzte, was sie jetzt machen wollen. Sie feiern Marta. Denn Marta ist grossartig!

Marta hat gelernt sich mit einer Gruppe von 23 fremden Kindern zu arrangieren. Sie hat gelernt sich in einem fremden Gebäude zurecht zu finden und wie man reagiert, wenn einem jemand den Weg auf der Treppe versperrt. Sie weiß, dass man dem Hausmeister Bescheid sagen kann, wenn man einen toten Vogel auf dem Schulhof entdeckt und sie hat wunderschöne Bilder in Kunst gemacht. Marta kann alle Buchstaben und liest manchmal Abends etwas vor. Sie beherrscht alle Regeln an die man sich in der Schule halten muss, sie findet die Turnhalle alleine, sie spielt Theater im Schultheater, sie tritt mit dem Schulchor in der Kirche auf. Marta war bis zum Lockdown nur ein paar Monate in der Schule. Im Grunde hat sie wahnsinnig viel gelernt. Nur gereicht hat es nicht.

Teil 2 folgt

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