Endlich ist es so weit, mein Sohn ist alt genug, um eine Bergwanderung mit mir zu machen. Unbändige Freude bei uns beiden lag in der Luft.
Als ich in seinem Alter war, haben wir schon viele Jahre immer Ferien in der Schweiz, in Graubünden gemacht. In den Bergen meiner Urgroßväter durfte ich mit meinem Vater eine erste Tour in den Bergen machen. Dass es sich dabei um eine hochalpine Tour handelte – der Startpunkt lag bei 1600m über dem Meer, sollte ich erst viel später begreifen. Trotzdem war die Tour eigentlich nichts Besonderes, wir wanderten einen Forstweg bis ins nächste Dorf. Für mich bedeutete sie aber alles. Mein Vater arbeitete, wie ich heute auch von morgens bis abends, oft an Wochenenden oder nachts. Auch im Urlaub klingelte regelmäßig das Telefon bei meinem Vater. Mobiltelefone waren damals noch rar und der Empfang in den Bergen war marginal. Mein Vater gehörte mir also in den Bergen ganz allein. Wir waren nicht zu erreichen und das war auch gut so. Ähnlich wie Emil heute sprach ich ohne Punkt und Komma und ließ ihn an meiner Welt teilhaben.
In meiner Erinnerung bin ich von da an, wenn immer Berge in der Nähe waren und das Wetter es zuließ in den Bergen herumgekraxelt. Oft allein, aber auch mit meinem Vater oder einem Schulfreund, dem ich bis heute eng verbunden bin. Berge waren etwas schier unermesslich großes, gleichzeitig Beruhigendes und Lockendes zugleich. Sie zogen mich in ihren Bann und verschluckten alle Störgeräusche, die es für mich gab. Für lange Zeit waren die Graubündner Berge für mich das Ideal des Berges, ich kannte jeden Stein, jeden Wald, jeden Stock.
Irgendwann gaben meine Eltern unser liebevoll renoviertes Feriendomizil in den Bergen auf, und damit verschwand auch die Möglichkeit für mich in diesen Bergen zu wandern.

Viele Jahre später waren die Karten neu gemischt. Ich wagte mich mit meinem Sohn in eine für ihn unbekannte Welt der Berge. Als Hamburger Kind waren ihm die Dimensionen und Gefahren in den Bergen nicht wirklich bewusst, nur die Angst vor Gewittern hatte er leider schon in sich aufgenommen. Wir packten also meinen Rucksack mit Schnitzmessern (kann man immer brauchen), einer Brotzeit, Getränken, Cranberries, Obst und vielem mehr. Da die Bündner Berge nicht wirklich erreichbar für uns waren, wagten wir unsere erste Tour in den Allgäuer Alpen. Wir fuhren mit dem Fahrrad vom Bannwaldsee Campingplatz durch einen malerischen Wald zu unserer ersten Talstation. Mit der Tegelberg Bahn fuhren wir in die Welt, die mir so viel bedeutete hinein. Ziel war die königliche Jagdhütte. Eine blaue Route, leicht gehbar hieß es. Nach anfänglich beschaulichem Verlauf, und dem ersten erreichten Gipfelkreuz, kippte das Bild relativ schnell. Steile Abhänge, Schotterwege und steiles Geläuf prägten spontan den Weg.
Die anfangs überschwängliche Motivation von uns kippte vor allem bei mir in Sorge um Emil, den ich bei jedem Schritt in den Abgrund stürzen sah. Da wir seit nunmehr einer halben Stunde uns überraschenderweise auch abwärts bewegten, sah ich keine andere Möglichkeit als umzukehren und eine andere Route zu begehen. Wir wanderten also zurück auf Start und wollten zur nächsten Hütte wandern, auch hier leider war nach wenigen hundert Metern Schluss. Steiler Weg mit rutschendem Schotter war kein Weg für Emil, den ich mit ihm gehen wollte. Langsam gingen uns die Wege aus, wir wählten dann den letzten übriggebliebenen Weg aus. Wir gingen den Panoramaweg bis zum Beginn des Klettersteiges. Hier hatten wir unser Ziel erreicht. Einsame Bergwelt, fantastische Aussicht und Platz für ein kleines Picknick. Nach stattgehabter Stärkung und erneuter Cremerei bei strahlendem Sonnenschein begannen wir den Abstieg und kehrten zuletzt in das Restaurant der Bergstation ein. Emil bestellte Kaiserschmarrn. Hungrige und vor allem aufdringliche Bergdohlen leisteten uns Gesellschaft. Danach fuhren wir wieder hinab ins Tal. Wehmut ergriff mich, hatte ich doch nur kurz wieder in der Bergwelt Fuß fassen können. Für Emil war dennoch dieser Ausflug in eine für ihn fremde Welt ein voller Erfolg, er erzählte seiner Mutter, dass wir durch die Berge geirrt seien wir aber doch noch das Restaurant gefunden hätten. Er würde mit mir auch nochmal eine solche Tour machen.

Einige Tage später, wir befanden uns inzwischen in Alpbach in Tirol, lockten mich die Berge erneut. Das zwischenzeitlich deutlich schlechtere Wetter stabilsierte sich es war zwar kühl aber trocken, und der Gratlspitz befand sich in Sichtweite. Meine Frau schupste mich fast auf den Weg doch endlich meine Bergtour zu beginnen (ich hatte offensichtlich etwas zu oft meine Sehnsucht nach Berg verbalisiert). Entgegen der gängigen Praxis startete ich also meine Tour um 15:00. Die Tour war mit rot gekennzeichnet und sollte 2 Stunden bis zum Gipfel dauern.
Ich packte in Windeseile meine sieben Sachen zusammen und brach auf. Steil ging es aufwärts, und immer steiler sollte es werden. Ich ließ in schnellen Schritten das Dorf hinter mir und passierte Wälder, Wiesen und eine Alp. Vor allem die Alp war mit Nervenkitzel verbunden, hier graste eine Mutterkuh mit Kalb, ein großes Warnschild war zu sehen. Als die Mutterkuh mich sah stoppte sie ihr genüssliches Wiederkäuen und starrte mich an. Im großen Bogen passierte ich Mutter und Kalb. Ich konzentrierte mich wieder auf den Weg und versank in einer meditativen Stimmung. Die Steigung erschien mir steiler als gewohnt, Schritt für Schritt, zutiefst konzentriert auf den Weg und den Berg erklomm ich den Weg zum Gratlspitz bis ich kurz vor dem Gipfel auf ein Plateau trat. Hier befand sich eine Bank in Gedenken an einen Alfred den ich nicht kannte. Ich verschnaufte kurz, trank und aß etwas. Dabei kippte erneut das Wetter und leichter Regen setzte wie aus dem nichts ein.
Kurz vor dem Ziel machte mir nun doch das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Ich kehrte um. Der Rückweg gestaltete sich bis auf Kalb und Mutterkuh unaufgeregt und nach knapp 3,5h erreichte ich wieder meine Familie. Ich stellte fest, dass ich in knapp 2h annähernd 1000 Höhenmeter bewältigt hatte. Für einen Hamburger, zwar mit Schweizer Genen aber ohne regelmäßige Bergwanderung eine brutale Steigung. Dennoch das lang verdrängte Bergfieber hatte von mir Besitz ergriffen. Ein Plan reift(e) in mir heran. Ein kleines Abenteuer was mir ein vollendetes Eintauchen in die Bergwelt ermöglichen soll. Die Nord-Südquerung der Alpen auf dem E5 Fernwanderweg von Oberstorf nach Meran. Für Emil käme die Tour zu früh. Eine mehrtägige Hüttenwanderung würde wohl ihn aber noch viel mehr mich erschrecken. Ich werde einfach mal einen Probelauf für die Alpenquerung durchführen, tatsächlich ist es ein Herzenswunsch mit Emil und Ida eine Alpenquerung zu schaffen, ihnen die Bergwelt zu zeigenund zu genießen.