Denn die Füchse von der Elbe
Wollten raus aus der Kälte
Hatten kein Ziel, aber fuhren los.
(Beginner, „Es war einmal…“)
Am Samstag gefriert der Nieselregen direkt auf dem Gehweg. Paul sagt noch: Pass auf, es ist glatt! Aber mich haut es gleich vor der Haustür einmal auf den Po. Ach so glatt meinte er! Keine Chance los zu fahren. Die Menschen laufen wie auf Eiern, der Hund rutscht wild herum, dass ich um seine Sehnen und Bänder fürchte und die Autos fahren nur im Schritttempo. Der Bus muss also einen weiteren Tag stehen bleiben. Emil ist auf einem Geburtstag eingeladen, und wollte eh nicht mit uns los fahren. Das dieser nicht seinen Erwartungen entsprach, kann man hier nachlesen.
Sonntag früh ist das meiste Eis getaut. Wir haben im übrigen etwas wahnsinnig Kluges getan: Wir haben uns eine Toilette für den Bus gekauft. Die ist aber noch nicht geliefert. Aber Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude. Auch sonst kann ich nur allen raten: Bevor ihr eure Campingbusse einrichtet, mit all den tollen Aufbewahrungsboxen, Fahrradträgern, Töpfen, Pfannen und sonstigem: Fahrt ein paar Wochen herum. Es dauert, bis man merkt, was man wirklich braucht und was nicht. Ein Jahr ohne Toilette hat uns zumindest gelehrt: Ihr braucht eine! Auch wenn dafür die Kaffeemaschine, das Sieb, die Gießkanne für Frischwasser und das Stromkabel einen neuen Platz brauchen.
Paul kommt nicht mit – er muss eine wichtige Publikation zu Ende bringen und fährt in die Klinik. Da hat er Ruhe und die richtige Arbeitsatmosphäre – auch am Sonntag. Was uns viel schwerer fällt: Wir geben vorher Pius bei seiner Patenfamilie ab. Wir haben uns damals aus gutem Grund schon vor der Anschaffung des Hundes um Paten gekümmert. Denn eine Familie die viel reist und ein Hund passen eben nicht immer gut zusammen. Von Anfang muss für Pius klar sein: Ich habe noch eine zweite Familie. Die reist genauso gerne und würde sich auch nie alleine einen Hund anschaffen, liebt Pius aber umso mehr. Uns fällt es heute besonders schwer ihn abzugeben. Ein Tag am Strand ohne Pius?
Die Kinder sind in Entdeckerlaune. Je öfter wir herum fahren, desto selbstverständlicher sitzen sie im Auto. Sie nörgeln so gut wie nie. Sie beschäftigen sich alleine, denken sich Spiele aus, lesen sehr viele Bücher, knabbern Salzstangen und singen Lieder. Die nasse Schnauze an meiner Hand fehlt mir ein bisschen. Ansonsten ist es warm und gemütlich, draussen herrscht fast undurchsichtiger Nebel, die Kinder haben sich eine Lichterkette angemacht und lesen.
Ich glaube, früher hätte mir bei dem Wetter ein Spaziergang im Park gereicht. Es ist feucht, grau, neblig. Eigentlich Wetter um drinnen zu bleiben, zu lesen, zu puzzeln, zu backen. Stattdessen Auto fahren bei schlechter Sicht. Und dann? Der Nebel wird bleiben. Wo halten? Was machen? Und dann noch ohne Hund?
Das Projekt treibt mich nach draussen und ich muss mir Aufgaben suchen. Irgendwo wird es eine Menge zu entdecken geben! Allerdings stellen wir alsbald fest: Die Welt wartet gerade nicht unbedingt darauf von uns entdeckt zu werden. Wir fahren 1,5 Stunden zur „Festung Grauer Ort“ um dort vor verschlossenem Tor zu stehen. Was die Festung so kann? Weiß ich nicht. Will ich auch gar nicht wissen. Sie klingt wie aus einem Harry Potter Buch, ich glaube, sie ist militärisch und grau, aber ich google vorher nicht. Ich will es selbst erfahren. Mit den Kindern. Ich will meine eigene Geschichte darüber schreiben. Aber die Festung möchte nicht von uns entdeckt werden. Stattdessen trinken wir Tee irgendwo im Nirgendwo, bei Nebel und Nieselregen mit Blick auf eine knorrige Apfelplantage. Die Kinder finden es toll. Das reicht.
Von hier ist es nicht weit bis Krautsand. Wahrscheinlich schüttelt jeder Mensch südlich der Elbe fassungslos den Kopf, wenn wir sagen, noch nie in oder auf Krautsand gewesen zu sein. Eine Halbinsel die in die Elbe hineinragt, lange Strände, Wald und flaches Wasser. Ein Sommerparadies. Und wir waren noch nie dort? Ich werde noch sehr oft merken, wo ich überall noch nicht gewesen bin. Vulkane in Nicaragua bestiegen, aber nie auf Krautsand gewesen, in Äthiopien in der Lehmhütte geschlafen, aber noch nie den Schmetterlingspark in Reinbek besichtigt. Der Mensch ist schon ein seltsames Wesen. Immer höher, schneller, exklusiver. Dabei ist es doch hier schön! Genau hier, vor unserer Tür. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Ich möchte mehr sehen, noch viel mehr!
Wir parken den Bus an einem Leuchtturm. „Wo lang?“ frage ich. „Immer dahin wo weniger Menschen sind,“ antwortet Emil. Eine weise Entscheidung. Doch viele Menschen sind hier eh nicht auszumachen. Ein paar Spaziergänger auf dem Deich, zwei drei Hundebesitzer am Strand und dann sind wir allein. Allein im Nebel. Das Hupen der Schiffe dringt durch den grauen Dunst zu uns herüber, manchmal erkennt man dunkel und schwer ihre Shilouetten im grau der Elbe. Ich mag dieses Wetter sehr.
Wir ziehen durch den Wald und das hohe Schilf. Der Hund fehlt uns sehr, vor allem Emil, der immer voraus eilt auf den Spuren all der Geheimnisse der Natur und jetzt so einsam voran läuft. Bevor wir in den Wald ziehen, legt Emil einen großen Stein nah ans Wasser. Er macht das immer. Es ist seine Art herauszufinden, ob Ebbe oder Flut ist. Wenn er zurück kommt, prüft er, ob der Stein versunken ist, oder weiter am Strand liegt als zuvor. Ich finde das eine grossartige und kluge Idee. Im Wald ist ganz zartes Eis über dem Laub. Es zerbricht unter unseren Schritten, es knirscht und knackt. Ida ist der festen Überzeugung, dass sie ab jetzt die echte Eiskönigin ist. Denn so bald sie aufstampft ziehen Risse durch das Eis und sie ist selbst ganz verzaubert von der Idee, dass sie magische Kräfte hat.
Ich lasse Emil und Ida die Natur selbst erkunden. Ich sage wenig, ich weiß aber tatsächlich auch wenig. Emil fragt sich, woher das Eis kommt, dass sich in so feinen Platten über das Laub gelegt hat. Und woher die Algen kommen, die in den Ästen der Bäume hängen. Ich grübele mit, aber ich sage keine Antworten. „Ha!“ ruft Emil auf einmal und zieht eine schwarze Alge von einem knorrigen Baum. „Die Sturmflut! Es war die Sturmflut die die Algen bis in die Bäume getragen hat. Und die Reste vom Wasser sind gefroren und haben die Eisschicht auf den Blättern gebildet!“ Ida nickt. Dann sagt sie immer noch mal annähernd dasselbe wie Emil und tut so als sei es ihre Idee gewesen. Ich glaube, Dreijährige kleine Mädchen dürfen das.
Manchmal muss ich mich selber bremsen nicht die Spielverderberin zu sein, denn Emil führt uns immer weiter ins Schilf hinein. Ich muss Ida häufig tragen, weil der Boden unter dem Schilf sumpfig und uneben ist. Zum teil hat das Hochwasser ganze Stücke Schilf heruntergedrückt und wenn wir darüber steigen, kommen darunter Löcher zum Vorschein, in die wir bis zur Kante des Gummistiefels versinken.Eigentlich habe ich keine Lust mehr, da durch zu waten und dabei Ida zu tragen. Ständig stolpere ich und wir sind schon seit zwei Stunden unterwegs und ich würde gerne wieder den Strand erreichen. „Emil,“ sage ich. „Es geht hier nicht weiter.“ Aber Emil sucht unermüdlich nach einem Pfad. Er probiert Strecken aus, verfängt sich im Schilf, sucht einen neuen Weg. Er ist überzeugt, dass er uns hinaus führen kann. Und er will es gerne beweisen. Ich finde Ida zu schwer und versacke ständig in irgendwelchen Untiefen. Aber er behält Recht und das freut mich dann doch wieder. Er findet einen schmalen Pfad der uns zum Ufer bringt. Das Schilf ist hier bis auf schwarze Stümpfe von den Kräften der Elbe abgemäht. Es sieht bizarr aus und der Nebel lässt die ganze Welt wie ein schwarz-weiß Foto wirken. Ein kleines Rinnsal sucht sich einen Weg durch die schwarzen, kargen Stengel bis zur Elbe hin. Die Welt ist so unsagbar aufregend.
Die ganze Zeit im Schilf sind wir über hohle, weiche Stengel gestolpert. Ida mag sie nicht, sie sagt, sie sehen aus wie Würmer, oder lange Beine eines Krebses. Emil grübelt. „Vielleicht etwas, dass von weit her angespült wurde….“ Als wir das Ufer erreichen, findet er die Lösung. Es sind die Schilfwurzeln. Direkt am Ufer der Elbe sieht man sie aus dem Boden ragen. Die Flut muss das Schilf umgeworfen haben, und die Wurzeln freigelegt. Mir gefällt es, dass Emil seine Lösungen selbst findet.
Der Stein liegt einsam am Strand. Es ist Ebbe. Das Wasser hat sich zurück gezogen. Der Nebel kommt zurück. Die großen Containerschiffe, die wir vor einer Stunde noch gut erkennen konnten verschwinden wieder im Nichts. Ein bisschen unheimlich ist es. Das Wasser liegt ganz still, nur wenn in der dunstigen Ferne ein Schiff vorbei zieht, surrt es, und ebenmäßige messerscharfe Wellen schlagen auf den Sand zu. Surreal sieht es aus und das Geräusch klingt beängstigend in der Stille.
Emil sucht die ganze Zeit die Elbe nach Schweinswalen ab, aber keiner zeigt sich. Jetzt sind wir so weit draussen in der Stille der Natur, aber die einzigen Schweinswale die wir mal gesehen haben, tummelten sich vor der Strandperle am Hafen.
Im Bus machen wir Kerzen an und essen Kuchen. Ganz selten ziehen Passanten vorbei und lächeln. Ich glaube, es sieht sehr gemütlich aus.
Wunderschön ❤
Ich musste sehr über Idas Wiederholungen lachen. 🙂 Das macht unser 2,5jähriger Sommerkäfer auch. Greift alles von der großen Schwester auf, und wiederholt es nochmal gewichtig. 🙂 Auch eine Art, die Welt verstehen zu lernen. Und das Alte Land steht nun mit noch mehr Nachdruck auf meiner Reiseliste.
Herzlich, Sandra
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