Dezember, kalt und Sonne. Ist das der richtige Moment los zu fahren? Ich sehe aus dem Fenster, der Bus steht ein ganzes Stück die Straße runter. Ich höre Pauls Stimme in meinem Kopf: Den muss man erst mal aufladen, sonst geht die Standheizung nicht.
Ja, jaja, denke ich. Manches will ich einfach nicht hören. Kann sein, dass sie nicht geht. Könnte aber ja sein, dass sie doch kurz geht! Und dann wäre es doch zu und zu schade nicht losgefahren zu sein.
Denn seien wir doch mal ehrlich. Um den Bus zu laden müsste ich einen Parkplatz direkt vor unserer Wohnung haben. Und wir sind hier in Hamburg Eimsbüttel. Es kann noch Tage dauern, bis hier ein Platz frei wird und dafür müsste ich wahrscheinlich Stunden am Fenster verbringen wie ein Luchs auf der Lauer. Das macht doch keinen Spaß.
Ich setze die Kinder ins Auto, nehme einen Korb mit Proviant mit und fahre einfach los. „Wo fahren wir hin?“ fragen die Kinder. „Sind wir jetzt Entdecker?“ Auf jeden Fall, antworte ich.
Wer die Welt ganz unvoreingenommen sehen will, ganz ungeplant und in all seiner Ehrlichkeit, mal schön mal hässlich, der sollte grundsätzlich ohne Karte und ohne Navi unterwegs sein. Das unterscheidet mich von Paul. Auf unserer ersten gemeinsamen Reise, wir waren gerade mal ein paar Wochen zusammen, sind wir nach New York geflogen. Und Paul wurde zum Stadtplan-Leser und Metro-Versteher und ich zur Flaniererin. Also gingen wir mal nach Plan und mal ganz ohne und jeder musste sich ein kleines bisschen dem anderen anpassen. Eine ganz gute Übung für ein Paar, das plant, sein Leben lang zusammen zu bleiben.
Gut, wir waren schon mal in den Boberger Dünen. Da musste man, wie der Name schon sagt, in Boberg irgendwo rechts abbiegen und dann eben noch mal und noch mal abbiegen. Das machte ich auch. Danach waren wir NICHT in den Boberger Dünen, aber irgendwo sah man Wald, also noch mal links und rechts und im Kreis (Kinder merken so was ja nicht) und schon standen wir ganz alleine auf dem Parpklatz. Neun Uhr früh – früh aufstehen lohnt sich, denn dann ist die Welt nicht nur ein ganzes Stück leerer, sondern vor allem erscheint sie in einem ganz anderen Licht. Wir saßen vor dem Bus, ließen die Gummistiefelbeine baumeln und frühstückten erst mal.
Wer im Winter reist, dass weiß ich jetzt, benötigt ganz andere Organisation. Eine weitsichtige, kluge Organisation. Eine, die im schlimmsten Falle auch eine funktionierende Standheizung beinhalten sollte. Aber dazu später.
Viel wichtiger ist die Frage: Wollen alle Kinder wirklich im Winter für Stunden draußen sein? Ich glaube ja. Kinder haben ein inneres Bedürfnis nach Wald, Wiese, Freiheit und frischer Luft. Egal wie sehr Emil und Ida sich manchmal an langen Wochenenden langweilen, wenn ich sage, wir fahren in den Wald, ist die Langeweile vorbei.
Ich glaube aber auch, dass dieses Bedürfnis verkümmern kann. Und erweckt werden muss. Nicht jedes Kind, dass ad hoc in einen Campingbus in den nächstbesten Wald kutschiert wird, und sich dort vier bis fünf Stunden bei der Kälte beschäftigen soll, kann das. Draußen sein bedeutet Übung. Drinnen sein auch. Kälte akzeptieren bedeutet auch, sich auf Dinge neu einzustellen. Im Sommer gehe ich anders mit Wasser um als im Winter. Im Sommer darf ich im Gras sitzen, im Winter lieber auf einem Ast. Es sind so viele Kleinigkeiten, die sich im Laufe der Zeit als Selbstverständlich erwiesen haben, bis zu dem Moment, wo man sie mit anderen teilt. Ich habe festgestellt, nicht alle Kinder wissen sich mehrere Stunden im Wald zu beschäftigen. Erst recht nicht, wenn sie über kalte Finger klagen oder das Wasser doch oben in die Gummistiefel gelaufen ist.
Ich sehe ein Schild, dass in Richtung der „Boberger Dünen“ zeigt, aber die Kinder rennen Richtung Wald. Ich lasse sie. Emil klettert auf jeden Baum. Hinter einem Zaun geht es steil hinunter bis zu einem kleinen Bach. Der Hund rutscht die Hälfte der Strecke, ist voller Matsch. Emil schafft es auch so. „Darf ich da runter?“ „Darf ich da rauf klettern?“ „Darf ich ins Wasser?“ Ich sage nie nein. Ich stecke meine Hände in die Tasche meiner Jacke und seh ihm zu. Ida kullert immer wieder einen kleinen Hügel hinunter. Ihr Haar ist schon voller gelbem Wintergras.
„Wollen wir einen Wald entdecken?“ fragt Emil aufgeregt. Wir wollen. Ein schmaler Pfad zieht sich einen kleinen Abhang hoch. „Ein See!“ ruft Emil begeistert. Zwischen den kahlen Bäumen taucht ein Tümpel auf. Vielleicht ist es auch nur eine Überschwemmung. Wir nennen es See. Die Kinder laufen mit den Gummistiefeln durch, der Hund mit den Matschpfoten. Wir bleiben über eine Stunde dort.
Ida kratzt mit einem Stock Pilze von einem Baum. Fein säuberlich. „Die wollen doch noch weiter leben,“ sagt Emil. „Nein,“ sagt Ida. „Der Baum möchte das nicht.“
Wir haben die Säge und das Schnitzmesser vergessen. Wir brechen Äste ab und finden welche im Unterholz. Es reicht um im trüben Wasser zu stochern. Außer uns ist niemand hier.
Nach drei Stunden kehren wir zum Bus zurück. Uns ist kalt, wir sind durstig. Wir schmeißen die Gummistiefel vor die Tür, streifen die Jacken, Mützen und Schneeanzüge ab. Die Standheizung macht ein seufzendes Geräusch. Dann geht sie aus.
Die Kinder liegen mit Decken oben auf dem Bett und gucken zum Fenster raus. Sie essen Beeren aus einer Schüssel und freuen sich. Mir ist kalt. Der Boden im Bus ist wie Eis. Ich hätte auf Paul hören sollen. Wie schön wäre es jetzt für eine halbe Stunde im Warmen zu sitzen.
Weil die Kälte uns zu schnell einholt packen wir uns wieder warm ein und gehen zu den Dünen. So viel Freiheit ist zu viel für Pius. Er weiß nicht wohin mit sich. Ich befürchte, er fällt nach all dem Gerenne gleich einfach tot um. Emil rennt auch immer weiter. Nur Ida sitzt im Sand und baut etwas. Das Licht ist so schön. Es ist der letzte Tag im Jahr. Ein guter Tag um in ein neues zu starten.
Wir kommen erst im Dunkeln wieder nach Hause. Ich habe Emil und Ida auf jeden Baum klettern lassen, ich habe sie über jeden Zaun steigen lassen, ich habe sie jeden Abhang herauf und herunter klettern lassen. Ich lasse sie schnitzen, rennen, mit Stöcken spielen. Ich hebe sie auf Mauern, Steine, kleine Felsen. Manchmal gucke ich nicht hin, aus Angst sie könnten fallen. Und dann komme ich nach Hause, es ist warm, weich, gemütlich. Keine Felsen,keine Bäume, keine Mauern auf denen man balancieren möchte. Nur unser Zuhause. Und es dauert keine zehn Minuten, nur ein Moment, wo Emil hinter Ida herlaufen möchte, die sich hinter dem Sofa versteckt. Ein falscher Schritt, ein Sturz gegen die Sofakante und kleine Schneidezähne, die von innen in die zarte Kinderlippe aufreißen. Alles voller Blut, der Teppich, das Bad, das Waschbecken. So ist das im Leben. Vor Gefahren und Stürzen kann man nicht davon laufen.
Eine gute Freundin hat mal gesagt: Wir schützen ihre kleinen Herzen und Seelen, aber ihren kleinen Körpern müssen wir ein bisschen Freiraum geben.
(Guter Vorsatz für 2017: Immer die Batterie vom Bus aufladen!)
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